Alle Zellen nutzen eine Menge unterschiedlicher Qualitätskontrollmechanismen, um die Funktionalität und Stabilität ihrer jeweiligen Proteinvielfalt zu sichern. In der Fachwelt bezeichnet man diesen Vorgang als Proteostase. Proteostase setzt sich aus den beiden Begriffen Proteom (Gesamtheit der Proteine, die eine Zelle produzieren kann) und Homöostase(Gleichgewicht) zusammen. Im Optimalfall sind die Proteine einer einzelnen Zelle also immer korrekt gefaltet und in stets passender Menge vorhanden. Allen noblen Bemühungen zum Trotz schafft es unser Körper nicht dieses Optimum zu gewährleisten. Altern und einige altersassoziierte Krankheiten sind mit einer beeinträchtigten Proteinhomöostase verbunden.
Von der DNA über die Kette zur 3D-Struktur
Jedes Protein wird auf ähnliche Art und Weise hergestellt. Der erste Schritt, auch als Transkription bezeichnet, findet im Zellkern statt und meint das Ablesen und Abschreiben des Bauplans von der DNA – unserer Erbsubstanz. Dann erfolgt ein Transport dieser abgeschriebenen Information aus dem Zellkern heraus, ebenso wie eine Übersetzung (Translation). Das bedeutet, dass DNA-Sprache in Protein-Sprache übersetzt wird, sprich das Protein auf Basis des DNA-Bauplans zusammengesetzt wird. In erster Linie ist ein Protein dann eine lange lineare Kette von Aminosäuren, ähnlich einer Perlenkette. Diese lose Abfolge von Aminosäuren nennt man Primärstruktur.
Damit die Proteine in Primärstruktur nun ihre Arbeit aufnehmen können, müssen sie noch gefaltet werden, wobei es sich um einen sehr komplexen Vorgang handelt. Zuerst kann die Proteinkette beispielsweise verdrillt werden, wodurch eine Spirale entsteht, die wegen der typischen Form alpha-Helixgenannt wird. Diese Form ist die häufigste Sekundärstruktur. Durch weitere Faltungsschritte erreichen die Proteine eine dreidimensionale Form – die Tertiärstruktur. In diesem Zustand verbinden sie sich und arbeiten mit anderen Proteinen zusammen.
Nur ein Protein, welches richtig abgelesen, übersetzt und gefaltet wurde funktioniert so, wie es die Zelle möchte. Was kann hier schiefgehen?
Bedrohliche Umwelt
Um gleich die vorherige Frage zu beantworten: eine Menge! ‚Alles Gute kommt von oben‘ gilt vielmehr in Film und Fernsehen als für uns, wissen wir doch bereits von der genomischen Instabilität, wie schädlich Ultraviolettstrahlung, Schwermetalle, Hitze oder Ethanol für unsere DNA sind. Diese Umwelteinflüsse beeinflussen unsere Proteine gleichermaßen. Außerdem setzt oxidativer Stress – umgangssprachlich ein Überschuss an freien Radikalen – dem Proteingleichgewicht zu. Damit nicht genug gibt es noch den ER-Stress. ER steht für endoplasmatisches Retikulum, eine Einrichtung in jeder unserer Zellen, dessen Funktion man als Logistikzentrum beschreiben könnte. Ebendieses Logistikzentrum kann ob des großen Bedarfs überlastet sein und Ware nicht mehr korrekt geliefert werden. Was bei Amazon, Alibaba und co. für viel Ärger sorgen würde, ist auch für die Zelle gefährlich. Alle genannten Einflüsse vermögen es Proteine zu entfalten und damit nutzlos werden zu lassen.
Proteostase – wie sich der Körper zur Wehr setzt
Die Proteostase umfasst einige Einrichtungen in dem Bestreben das Gleichgewicht zu erhalten. Aus Gründen der Übersichtlichkeit legen wir unsere Aufmerksamkeit auf zwei der bedeutendsten Mechanismen. Als Reaktion auf schädliche Umwelteinflüsse bildet die Zelle vermehrt Proteine aus der Hitzeschockfamilie. Das sind sehr widerstandsfähige Proteine, die in Situationen zellulären Stresses andere Proteine stabilisieren können. Sie schaffen das im Zusammenspiel mit Chaperonen. Interessiert sich jemand für England und Sprache, dann sollte jetzt ein Glöcklein klingeln. Ein Chaperon ist demnach eine ältere Frau, die eine jüngere als Beschützerin begleitet. Eine Anstandsdame aus England ist im Körper dann sowas wie ein Anstandsprotein. Es hilft einerseits neuen Proteinen sich zu falten oder kaputten Proteinen sich wieder richtig zu falten.
Gelingt die Stabilisierung oder Wiederherstellung der korrekten Faltung nicht, sind die Proteine erstmal unbrauchbar und müssen entsorgt werden. Was bei uns die Müllverbrennungsanlage oder der Recyclinghof übernimmt, erledigt im Körper das Proteasom. Zusammen mit einem kleinem Protein namens Ubiquitin (Ub) wird das kaputte Molekül mehrfach markiert, abgebaut und in die einzelnen Aminosäuren zerlegt. Alle diese Systeme arbeiten koordiniert im Sinne einer Wiederherstellung oder Entsorgung von fehlgefalteten Proteinen. Dadurch vermag es der Körper, die Anhäufung von beschädigten Komponenten zu verhindern und die kontinuierliche Erneuerung intrazellulärer Proteine sicherzustellen. Soweit zur Theorie. In der Praxis gibt es keine Garantie dafür, dass diese ausgeklügelten Mechanismen zu jeder Zeit funktionieren. Das Stichwort Zeit bringt uns bereits zum nächsten Punkt.
Falten – bei Proteinen top, im Alter Flop?
Sind Falten in unserer Vorstellung ein Zeichen von Alter und damit eher negativ behaftet, so verhält es sich bei den Proteinen, wie wir mittlerweile wissen, genau andersrum.
Viele Studien haben gezeigt, dass sich die Proteostase mit steigendem Lebensalter verändert. Die chronische Ansammlung von fehlgefalteten oder ungefalteten Proteinen trägt zur Entwicklung einiger altersbedingten Krankheiten wie Morbus Alzheimer, Parkinson und Grauem Star bei. Die Häufigkeit dieser Pathologien nimmt ob der steigenden Lebenserwartung laufend zu.
Die Synthese von Chaperonen als Reaktion auf Stress ist außerdem im Alter markant herabgesetzt. Studien an Tiermodellen unterstützen die Hypothese, dass der Chaperonabfall ursächlich für eine verminderte Lebensspanne ist. Gentechnisch veränderte Würmer und Fliegen beispielsweise, welche Chaperone verstärkt bilden, sind besonders langlebig. Auch bei langlebigen Mausstämmen fand man eine Hochregulation von einigen Hitzeschockproteinen. Zusätzlich dazu zeigen Untersuchungen an Säugetierzellen, dass eine Hochregulation von SIRT1 die Hitzeschockreaktion verbessert. SIRT1 gehört zur Genfamilie der Sirtuine, die aufgrund der zahlreichen Wirkungen im Zusammenhang mit dem Altern als Langlebigkeitsgene bezeichnet werden. Viele weitere Experimente und Studien lieferten wissenschaftliche Evidenz für den Zusammenhang zwischen Chaperonmenge und Lebensspanne – diese alle zu nennen, sprengt den Rahmen dieses Artikels allerdings.
Proteostop
Die medizinisch-biologische Forschung hat also bereits eine Menge an Aufklärungsarbeit in Bezug auf die Proteostase geleistet, aber gibt es auch bereits handfeste Ansatzpunkte, um die altersbedingte Schwächung der Proteostase aufzuhalten? Tatsächlich gibt es dazu viele Studien. Ein Ansatz zielt darauf ab, die durch Chaperone vermittelte Proteinstabilität und -faltung zu aktivieren. Im Mausmodell hat die medikamentöse Induktion eines speziellen Hitzeschockproteins die Muskelfunktion bewahrt und das Forschreiten von gewissen Muskelkrankheiten verlangsamt. In anderen Modellorganismen setzten ForscherInnen ebenfalls Chaperone ein und verbesserten damit altersbedingte Phänotypen. Die Anstandsdamen unseres Körpers sind also nicht nur Gentlewomen, sondern auch Kämpferinnen an der vordersten Front gegen das Alter.
Ein anderer Ansatzpunkt ist das Proteasom und andere Mechanismen, die dem Abbau von kaputten Proteinen dienen, denn Studien zeigen, dass die Aktivität dieser Systeme mit zunehmendem Alter abnimmt. Das gelang mit ausgewählten Enzymen, die ihre Wirkung innerhalb dieses komplexen Signalwegs entfaltet haben. Eine Nahrungsergänzung mit Spermidin oder Omega-6-Fettsäuren aktivierte das Autophagie-System. Damit meint man den Abbau von beschädigten Zellstrukturen (wie Proteinen). Vereinfacht ähnelt die Autophagie in ihrer Funktion dem uns bekannten Proteasom.
Ausblick
Es gibt also zahlreiche Hinweise darauf, dass Altern mit einer gestörten Proteostase vergesellschaftet ist und eine experimentelle Störung der Proteostase altersbedingte Veränderungen herbeiführen kann. Darüberhinaus gibt es verheißungsvolle Beispiele für Interventionen, die die Proteostase verbessern und das Altern bei Modellorganismen verzögern.
Bis auf den grauen Star, der mittels eines kleinen operativen Eingriffs kuriert werden kann, gibt es bis dato nur unzureichende Behandlungsmethoden für Pathologien wie Alzheimer und Parkinson. Beide Krankheiten sind sowohl für Betroffene als auch für dessen Angehörige sehr belastend und zeigen deshalb auch, wie wichtig es ist, die Forschungsanstrengungen im Bereich der Proteostase aufrecht zu erhalten. Vielleicht gelingt es in Zukunft den Horizont in der Proteostaseforschung von einer Krankheitsrelevanz in Richtung einer Gesundheitsrelevanz zu erweitern. Denn alles was verhindert werden kann, muss man später nicht behandeln.
Im nächsten Artikel dieser Reihe geht es um das fünfte Kennzeichen des Alterns: die deregulierte Nährstoffmessung.
Aus der Serie: Hallmarks of Aging
Welche nicht sichtbaren Veränderungen passieren im Körper, wenn wir älter werden? Was sind die Gründe für Falten, grauen Star oder Bluthochdruck? Wir schauen uns in der Serie „Hallmarks of Aging“ die Kennzeichen des Alterns an: molekular, tiefgründig, verständlich.
López-Otín, C., Blasco, M. A., Partridge, L., Serrano, M., & Kroemer, G. (2013). The hallmarks of aging. Cell, 153(6), 1194–1217. https://doi.org/10.1016/j.cell.2013.05.039