Teamfähigkeit ist ein immanenter Bestandteil des modernen menschlichen Charakters. In immer mehr Arbeitsfeldern wird auf das Team als wesentliche Funktionseinheit gesetzt. Auch deshalb, weil ein Team mehr als die Summe seiner Teile ist. Der Körper ist letzten Endes ebenso mehr als die Summe seiner Zellen. Das Stichwort heißt hier interzelluläre Kommunikation. So wie im Team ein Kommunikationsproblem das Worst-Case-Szenario ist, gilt das für unseren Organismus genauso. Im Optimalfall weiß jede Zelle jederzeit, was sie zu tun hat. Eine Voraussetzung dafür schafft die DNA, als eine Art Anleitung für die Funktion einer einzelnen Zelle.
Es gibt aber auch Situationen, wo sich die Zellen untereinander koordinieren müssen, beispielsweise bei Infektionen oder bei der Blutdruckregulation. Hormone und andere Botenstoffe ermöglichen in solchen Fällen eine gemeinsame Reaktion von Zellverbänden. Das hat viele Vorteile, aber auch manche negative Aspekte. Wir kennen das in gewisser Weise von politischer Ebene von großen Staatenverbünden wie den USA oder der Europäischen Union. Wenn mit dem Alter die Entzündungsreaktionen zunehmen, dann werden mehrere Signalübertragungswege im Körper dereguliert. Die Folgen davon sind eine abgeschwächte Immunüberwachung und eine Änderung der mechanischen und funktionellen Eigenschaften praktisch aller Gewebe. Schauen wir genauer hin.
Inflammaging
Das sogenannte Entzündungsaltern (engl. inflammaging) ist eine der prominentesten altersbedingten Veränderungen der Zell-Zell Kommunikation. Eine Entzündung hat viele Ursachen. Anhäufung von Gewebeschäden, Versagen des Immunsystems, Krankheitserreger oder die Unfähigkeit des Körpers abgestorbene Zellen zu entfernen sind nur einige Beispiele dafür. Zusätzlich dazu haben wir im Abschnitt über zelluläre Seneszenz gelernt, dass seneszente Zellen dazu neigen, entzündungsfördernde Substanzen an ihre Umgebung abzugeben. Auf molekularer Ebene führt die verstärkte Aktivierung von NF-kB, einem Transkriptionsfaktor, zur Entstehung einer Entzündung. All diese Umstände sorgen schlussendlich dafür, dass ein mehr oder weniger großer Zellverband eine gewisse Gruppe von Botenstoffen produziert: Interleukin-1b, Tumornekrosefaktor und Interferone. Komplizierte Namen mit noch weitaus komplizierteren Funktionen. Für uns reicht an dieser Stelle die Information, dass diese Stoffe über die Blutbahn überall im Körper verteilt werden können und dadurch die interzelluläre Kommunikation stören.
Entzündung und Immunsystem
Eine Entzündung ist auch an der Entstehung von Fettleibigkeit und Diabetes mellitus Typ 2 beteiligt. Diese beiden Krankheiten haben drastische Auswirkungen auf den Körper und leisten einen großen Beitrag zum Altern in der menschlichen Bevölkerung. Nicht umsonst liegen die Pathologien auf Platz zwei im WHO-Ranking der größten globalen Gesundheitsbedrohungen 2019. Auch bei der Genese von Arteriosklerose hat die Entzündung ihre Finger im Spiel. Gleichläufig mit dem Entzündungsaltern nimmt die Funktion des Immunsystems ab. Das hat einschneidende Folgen. Diese Immunoseneszenz (siehe zelluläre Seneszenz) kann zu einer schlechteren Abwehr gegenüber Infektionserregern führen. Auch die Widerstandsfähigkeit gegen Tumore ist betroffen, zumal das Immunsystem auch vor körpereigenen Bedrohungen wie bösartig veränderten Zellen schützt. Ebenso werden seneszierende Zellen in Organen oder im Muskelgewebe in einem funktionierenden Organismus vom Immunsystem beseitigt. Altersbedingte oder überschießende Entzündung schränkt all das ein.
Interzelluläre Kommunikation und NF-kB
Als die Forschung auf der Suche nach Ursachen und damit auch Veränderungsmöglichkeiten der Entzündung etwas mehr in die Tiefe der molekularen Pfade abgetaucht ist, stoß man auf den Transkriptionsfaktor NF-kB. Eine Überaktivierung von NF-kB steht typischerweise mit dem Altern in Verbindung. In Anlehnung an diese Erkenntnis wurden einige spannende Experimente durchgeführt. Bei Mäusen, denen ForscherInnen ein Gen zur Hemmung von NF-kB einschleusten, führte das zu einer Verjüngung der ursprünglich gealterten Haut. In einer anderen Studie, ebenfalls am Mausmodell, verhinderte die genetische oder medikamentöse Hemmung von NF-kB das Auftreten von typischen Merkmalen des Alterns.
Vergleichsweise neu ist die Entdeckung, dass Entzündung sowie Stressreaktionen des Körpers NF-kB im Hypothalamus aktivieren und damit zu einer verminderten Freisetzung von GnRH (Gonadotropin-Releasing-Hormon) führen. GnRH sorgt entsprechend dem Namen dafür, dass am Wirkungsort Gonadotropine freigesetzt werden. Das ist eine Gruppe von Hormonen, die ausgesprochen wichtig für Fortpflanzung und die Produktion von Sexualhormonen ist. Ein Mangel an GnRH führt zu Knochenbrüchigkeit, Muskelschwäche oder Hautatrophie. Die Liste ist noch länger. In Mäusen konnte eine GnRH Behandlung die Alterungsentwicklung verlangsamen. Die Erkenntnis zeigt einerseits das Vermögen vom Hypothalamus das Altern zu modulieren und andererseits die vielfältigen Wirkungen von NF-kB.
Sirtuine greifen durch
Wenn von Entzündung die Rede ist, dann ist auch unsere Familie von Langlebigkeitsgenen nicht weit weg vom Schauplatz. Die Rede ist natürlich von den Sirtuinen, einer Genfamilie mit sieben Mitgliedern (siehe auch Langlebigkeitspfade). Mehrere Studien zeigten, dass SIRT1 unter anderem über NF-kB Entzündungs-Gene herunterregulieren kann. Eine medikamentöse Aktivierung von SIRT1 bestätigte diesen Befund, während eine Verringerung widerrum in der Entwicklung und im Fortschreiten von entzündlichen Erkrankungen resultierte. SIRT2 und SIRT6 leisten ähnliches, wenn auch teilweise über unterschiedliche molekulare Pfade. Das komplexe Gefüge der interzellulären Kommunikation reicht aber über die Entzündung hinaus.
Der Bystander-Effekt: interzelluläre Kommunikation geht auch anders
„Die Wahrscheinlichkeit einer Hilfeleistung (prosoziales Verhalten) für Personen, die sich in einer Notsituation befinden, nimmt mit der Zahl der in dieser Situation anwesenden Personen ab“, so beschreibt das Dorsch Lexikon für Psychologie den Begriff Bystander-Effekt. Schön und gut, aber was hat das jetzt mit interzellulärer Kommunikation und Altern zu tun?
Das Phänomen, dass altersbedingte Veränderungen in einem Gewebe zu altersspezifischen Veränderungen anderer Gewebe führen, fällt unter die molekularbiologische Auffassung des Bystander-Effekts. Stellen wir uns vor, dass eine Immunzelle die andere dazu „ermutigt“, beim nächsten Bakterium auch nichts zu machen, sondern nur zuzuschauen. Das ist doch auch irgendwie eine Form der sich ausbreitenden unterlassenen Hilfeleistung, oder? Psychologie und Molekularbiologie sind in dieser Hinsicht enger miteinander verwoben als gedacht.
Neben entzündlichen Botenstoffen gibt es noch weitere Beispiele für „ansteckendes Altern“. Seneszente Zellen können bei anderen, noch gesunden Zellen über direkte Kontakte Seneszenz auslösen. Bei diesem Prozess sind unter anderem freie Radikale (ROS) beteiligt (siehe mitochondriale Dysfunktion). Ebenso kann eine gestörte Nierenfunktion beim Menschen das Risiko für Herzerkrankungen erhöhen. Dieser Bystander-Effekt hat aber auch etwas Gutes, denn er funktioniert auch rückwärts, wie Studien zeigen konnten. Interventionen zur Verlängerung der Lebensdauer, die auf ein Gewebe abzielen, können den Alterungsprozess bei anderen Geweben verzögern. Da ist die Molekularbiologie der Psychologie voraus!
Wiederherstellung einer fehlerhaften interzellulären Kommunikation
Wir haben nun eine Menge darüber gehört, wie es zur fehlerhaften interzellulären Kommunikation kommt. Zeit sich darüber Gedanken zu machen, wie man das verhindert. Genau das hat die Forschung sich auch gedacht.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten die Kommunikation wiederherzustellen. Besonders relevant sind dabei verschiedene Fastenmethoden zur Verlängerung der gesunden Lebensspanne und auch die Übertragung von systemischen Faktoren, die man aus Blut isoliert hat. Außerdem zeigte die Verabreichung von entzündungshemmenden Mitteln wie Acetylsalicylsäure (ASS) bei Mäusen eine gesteigerte Lebenserwartung. Sehr spannend und noch vergleichbar unerforscht ist das Darmmikrobiom. Bekanntlich beeinflusst das Darmmikrobiom die Funktion des Immunsystems und den Stoffwechsel. Daher scheint es möglich zu sein, die Lebensdauer des Menschen durch Veränderung der Zusammensetzung des Darmbakterien-Ökosystems zu verlängern.
Bedrohung und Ressource
Es gibt durchaus überzeugende Beweise, dass das Altern über die zellautonome Ebene hinausgeht. Es kommt zu einer generalisierten Veränderung der Kommunikation zwischen Zellen, die erfreulicherweise auch Interventionsmöglichkeiten bietet. Ähnlich wie bei der Stammzellerschöpfung, haben viele Kennzeichen des Alterns die veränderte interzelluläre Kommunikation als Endstrecke. Die kleinen Umbrüche auf Ebene der einzelnen Zelle durch genomische Instabilität oder Telomerverkürzung münden in einer allgemeinen Reaktion, die in ihrer Breite manchmal Nutzen und manchmal Schaden bringt. Das Gleichgewicht verschiebt sich mit dem Altern zusehends hin zum Schaden.
Anhand des Bystander-Effekts sieht man aber auch, dass die Anpassungsfähigkeit des Körpers im Alter ebenso Bedrohung wie Ressource sein kann. Es bleibt die Frage, wie wir diese Ressource konkret nutzen können. Diese Antwort ist uns die Forschung noch schuldig.
Das war der letzte Artikel aus der Reihe Hallmarks of Aging.
Aus der Serie: Hallmarks of Aging
Welche nicht sichtbaren Veränderungen passieren im Körper, wenn wir älter werden? Was sind die Gründe für Falten, grauen Star oder Bluthochdruck? Wir schauen uns in der Serie „Hallmarks of Aging“ die Kennzeichen des Alterns an: molekular, tiefgründig, verständlich.
López-Otín, C., Blasco, M. A., Partridge, L., Serrano, M., & Kroemer, G. (2013). The hallmarks of aging. Cell, 153(6), 1194–1217. https://doi.org/10.1016/j.cell.2013.05.039